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Wortbilder und Erzählungen

Kuckuck- oder: Echt schwer zu ertragen

Die Oberfläche. Glatt und glänzend, wenn kein Wind geht. Durchsichtig bis zum Boden, aber nur, wenn noch keine oder nur wenig Wasserpflanzen da sind. Und wenn die Sonne nicht blendet. Und wenn sie keine Spiegelung zurück wirft. Undurchsichtig wird es auch, wenn der Wind kommt und er das Wasser bewegt, dann beginnt sich die Oberfläche zu kräuseln. Man kann sich so  in der Waagerechten der Oberfläche halten. Beim Schwimmen und bei Gesprächen. Und im Denken. Und im Fühlen. In allem: Beim Essen, Spazieren gehen,  auf der Arbeit, beim Arztbesuch. Nur nicht bei Narkosen. Die sind unbewegt tiefschwarz. Da kann man schon mal das Totsein üben. Erinnerungen kann man auch oberflächlich und glatt halten. Man muss sie nur nicht berühren. Man kann immer alles betrachten, es idyllisch finden und den Ruf des Kuckucks über einem (oder kommt er von weit her?) überhören. Dennoch ruft er. Aber doch, der Vogelkundige weiß, dass die Existenz dieses Vogels auf der Vernichtung der anderen, wahren Nachkommenschaft des Nestes beruht, in dem der Kuckuck groß geworden ist. Jeder Kuckuck ist ein geborener Mörder. Vergesst das nicht, wenn ihr ihn hört. Zählt auch nicht seine Rufe oder zählt nicht eure Geldstücke, die ihr in der Tasche habt, wenn er ruft. Denn das ist Quatsch, dass irgend ein Kuckuck weiß, wie viele Jahre ihr noch zu leben habt und wie viel mehr Geld in euren Taschen in diesem Jahr verbleiben wird. Verlasst euch lieber darauf, dass ihr wisst, dass der Kuckuck von Natur aus mordet, dass er blendet und dass sich die jeweiligen Vogeleltern bis zur Selbstaufgabe anstrengen, diesem einen Küken den gefräßigen Schnabel zu stopfen. Sie wissen es nicht anders. Sie sehen nur die Oberfläche. Und das ist in diesem Fall ein weit aufgerissener Schnabel und leicht vibrierende Flügel eines dicken Vogelkinds, welches sie in ihrem Tun bestätigt, alles in diesem Frühling richtig zu machen. Heraus gerollte Eier, die am Boden zerbrochen liegen oder herausgeworfene Küken, die sich noch unter dem Nest sterbend bewegen. Nackte Kleine, die, wenn sie Glück im Unglück haben, durch einen erlösenden Biss von der Katze geholt werden. Die sehen die Vogeleltern in ihrem Aufzuchtseifer nicht. Denn die Eltern sind gefangen im Rhythmus des Hin- und Herfliegens für die jeweilige Fütterung. Sie finden sich in die Oberfläche eines Rituals ein, in die eines  Automatismus, der sie wie im Wahnsinn wie blind arbeiten lässt. Sie haben zur Kontrolle keinen Anlass bei dieser Tätigkeit. Und so füttern sie ein großes Kuckuckskind und nicht ihre eigene Brut. Oberflächen sind gefährlich. Man weiß nie, was sich unter oder hinter ihnen verbirgt. Ich bin z. B. als wohlhabende Backpackerin aus dem Westen nach Kambodscha gereist und packe mir in den Tourist-Zentren meinen Rucksack mit bunten Flyern und meinen Magen mit landesüblichen Leckereien voll. Das mache ich natürlich neben denen, die im Müll nach Nahrung suchen. Geht eben nicht anders. Ist so! Manchmal sind Fernsehkameras dabei und filmen das. Denn ich bin eine bekannte Bloggerin mit hunderttausenden von Followern. Die wollen schließlich etwas sehen und erleben, da, zuhause, vor ihrem flimmernden Viereck. Es braucht wahrlich nicht viel, dass ich mir meinen Abenteueralltag dennoch damit entschuldigen kann, wenn ich in die Kamera hinein sage : „ das hier ist für mich jetzt echt schwierig!“. „Was ist schwierig“? fragt der Journalist, „ na, dass ich hier saufe und und fresse und die anderen haben nichts zu essen“. Danach gehen wir, das Filmteam und ich, einen saufen und  dann filmen sie mich, wie ich eine in Öl gebackene Vogelspinne esse. Da kenne ich nichts. Das mache ich! Das ist meine Welt! Muss ich doch weiter leben! Trotzdem mir manches echt schwierig ist, es zu ertragen. Ich bin ja nicht eine Titanin, oder eine Atlassia ( wie heißt die Frau von Atlas nochmal? Atlassine? Atlantine?). Nein, ich habe nicht solch starke Schultern, dass ich diese Welt und schon gar nicht das Himmelsgewölbe tragen könnte. Und dennoch trage ich eine schwere innere Welt, wie jeder von uns. Jeder trägt sein eigenes Himmelsgewölbe, so lange er lebt. Du auch. Und wer weiß schon, was wir nach dem Leben alles noch tragen sollen?

Ein Elefant, dem Wilderer das Gesicht, mit Rüssel, abgesäbelt hatten, um an die Stoßzähne zu kommen. Dieser Elefant versuchte noch, vom Boden aufzustehen und richtete sein massakriertes Haupt hoch auf. Ein paar schüchterne, lächelnde, dünne Menschen standen weiter hinten in einem großen Bogen herum. Die Gesichter voller Unwissenheit darüber, was sie da gerade  gesehen oder mitgemacht oder es sogar selbst getan hatten. Nicht nur der Kuckuck ist ein geborener Mörder.

Das www, das weltweite Netz hat mich grausam überfallen mit diesem Bild. Von jetzt auf gleich in ein Bildertrauma gestürzt. So trägt mich seitdem das Grausen über Menschen wieder mal  durch meinen Tag. Durch jeden Tag und ich kann nur weiter leben, wenn ich mich an den Oberflächen festhalte.

Ich werde über alles informiert, ob ich will oder nicht. Und vor allem,- ich werde über alles desinformiert. Man belügt und betrügt mich mit den Informationen. Bei allem muss ich „Ostern“ spielen. Also, Ostereier suchen und hoffen, dass ich welche finden kann, deren Inhalt einen Wahrheitsgehalt hat. Und das ist gar nicht zu ertragen, diese Unwahrheiten. Aber ich muss das aushalten, dass ich alles weiß. Was kann ich schon dagegen tun? Ich will all dieses Wissen hinnehmen. Was tue ich? Ich bin die Passantin, die durch den vermüllten Wald latscht. Ich bin selbst das Paar, welches, wohl so resolut wie meine Mutter zugreift, als auch zutiefst resigniert  stumm, sich in Ideale flüchtet, wie mein Vater. Ich bin die vielen Paare, die durch ihre Zeit und durch ihre Leben tappen. Und, wie selbstverständlich, auch durch die vermüllte und der Katastrophe hingegebenen Natur schlendern. Ich bin wie mein verstorbener Bruder, der alles tat, damit er Ruhe bei seiner Frau hat, auch, wenn er seine kleine Schwester dafür verraten musste. Verzeih mir. Und ich verzeihe Dir.

Natürlich! Wir verzeihen uns. Aber vergessen wir das? Ein ganzes Leben hängt daran. Inhaltsgewichtig und auch: Sehr schwer das alles und immer mit zu schleppen. Du, lieber Bruder, Du hast Ruhe bei Deiner Frau und ich Ruhe vor den Demütigungen. „Häng das Bild von Heinrich Vogeler um, damit die kleine Schwester das nicht sieht, wenn sie zu Besuch da ist“. Oder dass sie es gar beansprucht? Sie erinnert sich nicht, dass das Konvolut der Kunstwerke, das Erbe, noch nicht aufgeteilt ist. Sie will sich nicht erinnern. Aber sie erinnert sich. Sie geht nicht gegen den geliebten Bruder zum Kadi. Die kleine Schwester will ihrem Bruder nicht die Chance nehmen, dass er ihr den Teil gibt, der ihr zusteht. Diese Chance hat er, hat sie. Haben beide, bis sie alt sind. Seine Bruderchance hat er vertan. Das tat er mit seinem Tod. Ist das Sterben seine nächste Tat gewesen? Ich verzeihe Dir. Ich nehme Dich aber überall mit hin, lieber, lieber Bruder.

Und die kleine Schwester flattert. Kann man Insektenflügel eigentlich reparieren? Die kleine Schwester wird zu den Schweinen gehen müssen, um zu überleben. Opferbereit muss ich Backpackerin auf Abwegen das sehen und alles ertragen. Mich hingeben, mein Einverständnis willig heraus schenken. Das stellt sich ein, wenn man keinen Ausweg mehr hat. Aus Liebe nichts zu beanspruchen, ist ziemlich schwer zu ertragen. Trotzdem man, auch als moderne Bloggerin, das Hohe Lied der Liebe auswendig gelernt hat. Und es leicht sein sollte, Vergeben zu ertragen. Ist es aber nicht. Es formte die zukünftigen Spuren eines jungen Lebens. 

Wie in einem stillgelegten Tunnel, bin ich die Kuh, die dort zwischen den toten Gleisen weidet und nicht bemerkt dass doch noch wieder ein Zug kommt. Oder etwas anderes, etwas endgültiges, welches kommen wird. Ich habe das doch wissen müssen. Das alles. Der Weg nach hinten ist mir versperrt. Kühe haben Engelsaugen. Und, sie haben keine Vergangenheit. Sie haben noch nicht mal eine Zukunft.

Was ist zu tun? Sich klein machen, da im Tunnel? Ein Gebet sprechen? Den nahenden Tod mit, ihn umlenkenden und verwirrenden, Informationen füttern? Soll ich ihm entgegen gehen? Die Informationen des Vergehens einfach so annehmen und verarbeiten. Das Gras, welches zwischen den skletten Bahngleisen dürr wächst, muss die Kuh mit den Engelsaugen  schlucken und zugucken, wie schon in der Ferne sich der Zug anschickt, sie zu treffen. Vergeben und Vergessen, das geht nur durch eine mühsam erarbeitete Erkenntnis, dass das alles nicht mehr zu ertragen ist. Kühe und Passanten haben keine Hoffnung. Erstens, weil eine Kuh keine Existenz hat und zweitens, weil wir als Passanten nur vorübergehend da sind.

Wir sind nicht die Ewigkeit.

Die neue Funktion der Information: Man informiert darüber, dass wir alle wohlhabende Backpacker sind. Wir sitzen inmitten des Geschwürs und werden untergehen. Wir haben keinen Ausweg. Es gibt keine Alternative. Deshalb kaufen wir weiter Feuerwerkskörper an Sylvester ein. Da bekommen wir schonmal eine Vorstellung davon, wie sich der Knall anhört. Weil ein Jahr dem anderen folgt, atmen wir weiter. Alles, die letzten und auch die kommenden Jahre, atmen wir die Informationen auch noch mit ein. Keiner informiert an Sylvester im Vorfeld  die restlich verbliebenen Vögel in den Bäumen vom kommenden Donner. Diese haben gar keine andere Wahl, als aus aus ihren Nestern oder von den Zweigen zu fallen. Sie können  für ewig und vor Schreck nicht mehr singen. Oder hat jemand einen einzigen Vogel am letzten Sylvester singen gehört?

Ich habe nur die Hoffnung, dass die kleinen Vögel an Sylvester denken: „Oh, was für ein schlimmes Gewitter!“ Und dann suchen sie sich ein holziges Gebüsch, denn sie haben im Winter keine Blätter an den Bäumen, mit denen sie sich decken könnten. Und man hat ihnen auch zunehmend die Ruhe der Wälder genommen, in die sie sich flüchten könnten. Man braucht Holzstäbe für die Feuerwerksraketen und Papier für die Papphülsen. 

Ich habe nur die Hoffnung, dass die kleinen Vögel denken:„Oh, was für außergewöhnliche Blitze! Lasst uns die Federn aufputzen und Blitz und Donner geduckt überstehen“. Die Luft wird dick durch die Feuerwerke und immer schwerer. Und meistens ist es eiskalt. Es ist ja Winter an Sylvester. Bei uns. Auf der anderen Seite der Erde ist Sommer. Und keiner sagt auch dort, wie hier, den Vögeln, dass ihnen die Atemwege verstopft werden. Die Vögel hie und die Vögel da, bekommen keine  Informationen. Sie fallen,  plumps, vom Himmel.

Wie Steine fallen sie. Wie dicke braune, schwarze, bunte, zarte, kleine Hagelkörner. Das Kind wird es sehen: „Schau mal, die Vögel, sie sind die Kleinsten der Engel, denen der Himmel ein Erdenleben geschenkt hat“. Das Kind soll staunen. „Die kleinen Engelchen sollen für später im Paradies schonmal das fliegen üben“. Das Kind staunt. „Und dieser hier“,- dabei zeigen wir auf den nächsten toten Vogel, „hat die rettende Wolke nicht mehr rechtzeitig erreicht, weil er herumgebummelt und nicht gehorcht hat“ (ein mahnender Zeigefinger weist das Kind auf die Folgen des Bummelns und auf Ungehorsam hin).

Sie fallen. Uns vor die Füße in ihrem zarten Federkleid. Und am Neujahrsmorgen räumen die Straßenkehrer die gefallenen Engel mit dem Müll der Hülsen vom Feuerwerk fort. Müllwerker machen keinen Unterschied zwischen dem Überrest vom Sylvester und dem von der Knallerei getöteten Vögel. Was tot ist und dreckig und was weg kann, räumen sie beiseite. Müllmänner reinigen den Asphalt. Egal, ob ein toter Vogel oder ein ausgebrannter Böller dort liegt. Alles wird entsorgt.

Wir sind mitten drin, in der großen Engelvernichtung. Alles das ist, wie gesagt, nicht mehr zu ertragen!

wenn Sie mir dazu etwas schreiben möchten, würde ich mich freuen